FT2021

 

Wenn es um Gewalt geht, wird Männern meist die Täterrolle zugeschrieben. Und das nicht zu Unrecht, knapp 90 % aller Tatverdächtigen bei Gewaltdelikten sind männlich.

Bei solchen Zahlen wird oft vergessen, dass etwa 60 % aller Opfer von Gewalttaten ebenfalls männlich sind. „Du Opfer!“, ein gerne benutztes Schimpfwort, verdeutlicht, wie stigmatisierend das Opfer-Sein ist. Gerade im Rahmen einer Männlichkeitskonstruktion, die Stärke und Wehrhaftigkeit als wichtige Merkmale stereotypisiert, wird es für von Gewalt betroffene Jungen* schwierig, dieses Opfer-Sein zu thematisieren.

Im Kontext des Systems männlicher Herrschaft gilt sich vor der eigenen Verletzbarkeit schützen zu wollen als Teil des männlichen Habitus (Bourdieu 2005). Jungen* führen demnach „...ein[en] leidenschaftlichen Kampf gegen das Gefühl der Verletzbarkeit“. Männer seien „Gefangene und auf versteckte Weise Opfer der herrschenden Vorstellung“ (ebd.).

 Gendersensible Jungen*arbeit vergegenwärtigt sich diese toxischen patriarchalen Strukturen und will Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen von Jungen* be-sprechbar machen.

Wie dies, analog zum Ansatz des intersektionalen Feminismus, realisiert werden kann und wie die gesellschaftlichen Gewaltspiralen unterbrochen werden könnten, damit beschäftigt sich der Fachtag Jungen*arbeit Hessen. Dabei soll eine ressourcenorientierte Perspektive eingenommen werden.

Im Zentrum unserer Beschäftigung mit dem Thema sollen folgende Fragen stehen:

-             Wie äußert sich Gewalt in den Lebenswelten von Jungen*?

-             Welche Veränderungen, welche Entwicklungen sind dabei zu beobachten?

-             Je lauter desto vulnerabler?

-             Wie kann die „Gewaltspirale“ unterbrochen werden?

 

Start Workshop am Nachmittag des 28.09.21 : Was macht Gewalterfahrung mit Jungen und Männern?

In diesem Workshop bot sich die Gelegenheit mit dem Thema der Gewalterfahrung auseinanderzusetzen. Im Informativen Teil des Workshops wurde von den Referent*innen über deren Erfahrungen und Eindrücke als Therapeutin und Therapeut im „Informationszentrum für Männerfragen“ in Frankfurt zum Thema „Gewalterfahrung von Jungen und Männern“ berichtet.

Referent*innen: Daniel Arncken - Gestalttherapeut (Informationszentrum für Männerfragen) und Lea Rubbel - Systemische Therapeutin (Informationszentrum für Männerfragen) Ablauf des Workshops

 

Programm am 29.9.2021 (offizieller Fachtag) Ablauf der Tagung und Beteiligte

9:30 Uhr: Ankommen

10:00 Uhr: Begrüßung

10:15 - 12:00 Uhr: interaktiver Input Rolf Tiemann/ Bremer JungenBüro

12:00 - 13:00 Uhr: Mittagspause

13.00 - 15:30 Uhr: Workshops:

A) Angebote für Jungen*? (Knüpft an den Input vom Vormittag an)

B) Jungen* als Betroffene von sexualisierter Gewalt

C) Rassistisch motivierte Gewalterfahrungen und deren Auswirkungen auf Jungen*

 15:45 Uhr: Die Bildungsinitiative Ferhat Unvar aus Hanau stellt sich vor.

16:30 Uhr: Tagungsende

Moderation: Alexander Arnold und Veit Wennhak (Fachgruppe Jungen*arbeit in Hessen)

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Vortrag:

Warum gewaltbetroffene Jungen* gerne Beratung wollen – ihnen aber keine Angebote gemacht werden!

„Jungen wollen keine Beratung“, „Jungen nehmen die Angebote nicht an“, „Ach, Jungen sind auch Opfer?“ solche Sätze fallen immer noch, wenn es um Jungen* als Betroffene von Gewalt geht. Der Vortrag behandelte die Frage, welche traditionellen geschlechtlichen Zuschreibung an Jungen* immer noch dafür sorgen, dass es für Jungen* schwierig ist Zugang zum Beratungs- und Hilfesystem zu erhalten. Und ist das eigentlich ein Problem des Angebots oder der Nachfrage? Und warum tun wir Pädagog*innen uns eigentlich manchmal so schwer mit „männlicher“ Ohnmacht?

Aus der Perspektive einer Beratungsstelle für gewaltbetroffene Jungen* wurden Faktoren vorgestellt, wie ein Beratungsangebot an Jungen* dennoch gelingen kann.

Rolf Tiemann, Pädagoge, Mitarbeiter der Beratungsstelle Bremer JungenBüro - Beratung für Jungen* die Gewalt erleben. 

Vortrag PDF

 

Workshops am Nachmittag des 29.9.2021

 Workshop A: Angebote für Jungen*?

Der Workshop A hat die im Vortrag aufgestellten Thesen aufgegriffen und im vertieften Austausch mit den Teilnehmenden überprüft. So wurden die Erfahrungen aus verschiedenen pädagogischen Settings in der Jungen*arbeit reflektiert und Ideen entwickelt, wie wir bestehende Angebote für Jungen*, denen Gewalt widerfahren ist, sichtbarer und annehmbarer gestalten können. PDF Workshop A

Referent: Rolf Tiemann, Pädagoge, Mitarbeiter der Beratungsstelle Bremer JungenBüro - Beratung für Jungen* die Gewalt erleben

 

Workshop B: Jungen* als Betroffene von sexualisierter Gewalt

Mit Blick auf die aktuelle Dunkelfeldforschung ist davon auszugehen, dass es durchschnittlich in jeder Schulklasse mindestens ein Jungen* gibt, der von sexuellem Missbrauch betroffen ist. Trotzdem Jungen* werden als Betroffene von sexualisierter Gewalt häufig nicht wahrgenommen. Im Workshop wurde der Frage nachgegangen, wie Männlichkeitskonstruktionen die Bedingungen des Zugangs zu Unterstützungsangeboten beeinflussen, welche inneren und äußeren Hürden überwinden werden müssen, damit Jungen* Hilfe in Anspruch nehmen können und welche Möglichkeiten es gibt, als Einrichtung damit umzugehen? Ziel des Workshops war es, Handlungssicherheit im Umgang mit männlichen* Betroffenen zu vermitteln, Aufdeckungsprozesse zu stärken und die Prävention sexualisierter Gewalt zu fördern. PDF Workshop B

Referent: Micha Schmidt, Pädagoge, Mitarbeiter der Beratungsstelle Bremer JungenBüro - Beratung für Jungen* die Gewalt erleben

 

Workshop C: „Rassistisch motivierte Gewalterfahrungen und deren Auswirkungen auf Jungen*“

Rassistische Narrative in Bezug auf Jungen* sind vielfältig. Von Parallelgesellschaften bis hin zu kriminellen Machos. Gesellschaftliche und mediale Diskurse konzentrieren sich in der Darstellung häufig auf aggressive junge Männer – allzu gern mit dem Zusatz: „Migrationshintergrund“. Ihnen wird qua vermeintlicher Herkunft ein Konflikt mit den emanzipatorischen Kräften der Bundesrepublik konstatiert: migrantisierte Jungen* seien qua Herkunft Treiber patriarchaler Strukturen, durch Konzepte toxischer Männlichkeit sozialisiert und damit Ursache und Auslöser sexualisierter Gewalt sowie vermeintliche Befürworter fundamentalistischer Religionsausübungen.

Diese rassistischen Narrative gilt es im Rahmen des pädagogischen Arbeit aufzubrechen und migrantisierte Jungen* zu empowern. Doch wie kann dies geschehen? Wie funktioniert dieser gesellschaftliche Mechanismus, welche Funktion haben diskriminierenden Vorurteile und wie können sie dekonstruiert werden? PDF wird nachgereicht

Referent: Azfar Khan, Koordinierungsstelle Anti-Rassismus der Stadt Frankfurt am Main

 

Zum Abschluss des Fachtages stellte sich die Bildungsinitiative Ferhat Unvar aus Hanau vor https://www.bildungsinitiative-ferhatunvar.de/.

Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu und Kaloyan Velkov wurden am 19. Februar 2020 in Hanau ermordet.

Die Bildungsinitiative wird von der Familie Unvar, Jugendlichen, engagierten Erwachsenen, sowie Freund*innen von Ferhat getragen. Gemeinsam setzen sie sich aktiv gegen Alltags- und institutionellen Rassismus ein. Die Bildungsinitiative steht für einen Raum der Aufklärung, des Zusammenhalts, der Bildung und für ein friedliches Zusammenleben mit einer Vielfalt an Religionen, Kulturen und Nationalitäten.

Sie gibt kurze Einblicke in ihre Beweggründe, Ziele und zeigt aus ihrer aktuellen Arbeit heraus Ideen zu möglichen Kooperationen auf. Zur Vorstellung

Sie wollen die Bildungsinitiative Ferhat Unvar in ihrer wichtigen Arbeit unterstützen? Dann bitte hier dem Link folgen: https://www.bildungsinitiative-ferhatunvar.de/spendenkonto/