"Männerquote macht keinen Sinn." Interview des Schweizer Tagblatts mit Marc Melcher 

Es braucht mehr Männer in sozialen Berufen, heisst es stets. Nicht um jeden Preis – und schon gar nicht, um die Branche aufzuwerten, sagt Marc Melcher, Erziehungswissenschafter aus Frankfurt am Main. Im Februar 2016 referierte er in St. Gallen.
Diana Hagmann-Bula vom Schweizer Tagblatt hat ihn interviewt.

Diana Hagmann-Bula: Herr Melcher, fühlen Sie sich als Mann, Erziehungswissenschafter und Sozialforscher oft als Exot?

Marc Melcher: Ja, und deshalb bin ich oft sensibel bezüglich meines Auftretens.

Hagmann-Bula: Wo sind Sie besonders vorsichtig?

Melcher: Ich achte darauf, keine zu dominante, typisch männliche Rolle einzunehmen. Etwa überlege ich mir bewusst, wie ich einen Raum einnehme. Ich stelle mich nicht mit verschränkten Armen in die Mitte eines Zimmers und beanspruche bei Podiumsdiskussion nicht zu viel Redezeit.

Hagmann-Bula: Auch, um nicht die Tatsache zu verstärken, dass Männer in sozialen Berufen zwar untervertreten sind, aber oft eine Führungsposition belegen?

Melcher: Ja, auch deshalb. Männer belegen oft eine Leitungsposition, weil diese in einer nicht sehr wertgeschätzten Branche mehr Ansehen bringt. Helfen, Pflegen und Erziehen gelten noch immer als typisch weibliche Tätigkeiten. Sie entstammen der Hausarbeit, die stets unter dem Ernährertum rangierte. Ausserdem verlangt eine Leitungsfunktion oft Einsatz, der über die herkömmlichen Arbeitszeiten hinausgeht. Eine Frau, die Familie und Beruf unter einen Hut bringen muss, steht da meist an. Hinzukommt, dass Männer sich wegen ihrer Sozialisierung mehr zutrauen als Frauen und eher einen Schritt nach vorne und damit Richtung Leitung tun.

Hagmann-Bula: Dabei braucht es eben an der Basis mehr Männer, lautet die Forderung. Warum?

Melcher: Wir benötigen eine Vielfalt an Menschen, die sich mit Jugendlichen, Senioren oder Kranken abgeben. Es fehlt Buben an Vorbildern für neue Rollenmodelle, an Männern also, die gerne und mit Herz als Primarschullehrer, Krankenpfleger oder Kita-Betreuer arbeiten.

Dabei machen Frauen ihren Job doch gut…

Melcher: Es geht nicht um Qualitätssteigerung durch Männer, es geht nicht darum, mit Männern diese Berufe aufzuwerten. Es geht mir ausschliesslich um neue Rollenmodelle, darum, dass Buben sehen, dass man als Mann in einem sozialen Beruf durchaus zufrieden sein kann.

Hagmann-Bula: Im Bereich der Schule heisst es immer wieder, die weibliche Pädagogik der Lehrerinnen werde Buben nicht gerecht. Stimmen Sie dem zu?

Melcher: Laut Studien bestehen keine Unterschiede zwischen Lehrerinnen und Lehrern im Umgang mit Buben. Allerdings behandeln beide Geschlechter Schülerinnen anders als Schüler. Lehrerinnen und Lehrer kommunizieren mit Buben wortkarger, schmücken hingegen den Dialog mit Mädchen aus. Dabei braucht ein Sechsjähriger gleich viel Trost und Nähe wie eine Sechsjährige, wenn er stürzt. Diese Muster zu erkennen und zu durchbrechen, das muss auch Teil der Ausbildung der Fachleute sein.

Hagmann-Bula: Ein Vorteil, der oft angeführt wird: Auf Beratungsstellen würden sich mehr Männer beraten lassen, wenn dort mehr Männer arbeiten würden?

Melcher: Männer gehen meist erst zum Arzt, wenn es fast schon zu spät ist. Geht es um Beratung, verhält es sich ähnlich. Das lässt sich nicht mit einem Mann als Ansprechperson ändern. Ausserdem kann es sein, dass ein Betroffener schlechte Erfahrungen mit seinem Vater gemacht hat und sich bei einer Frau besser aufgehoben fühlt. Wichtig ist, dass er die Wahl hat, ob er sich von einem Mann oder einer Frau beraten lassen will.

Hagmann-Bula: In Österreich fordert die SPÖ eine Quotenregelung für Männer in Sozialberufen. Bei 40 Prozent soll sie liegen. Was halten Sie davon?

Melcher: Eine Quote macht nur Sinn, wenn Männer in eine Branche einsteigen wollen, ihnen aber der Zutritt verweigert wird. Das ist nicht so. Zurzeit nimmt die Anzahl Männer ab, die soziale Arbeit studieren. Die Forderung darf nicht lauten: Mehr Männer um jeden Preis! Die Qualität der Auserwählten muss stimmen. Man darf auch nicht nur die Löhne erhöhen, um mehr Männer anzulocken. Beides wäre ein Schlag ins Gesicht der Frauen, die schon lange auf diesem Gebiet arbeiten. Die Löhne müssen erhöht werden, da diese Berufsfelder per se unterbezahlt sind.

Hagmann-Bula: Sie haben das Projekt «Daddy be cool» ins Leben gerufen. Buben ab der 7. Klasse lernen, wie man Babies wickelt und wie man kocht. 13-Jährige sollen auf den Geschmack kommen, später engagierte Papas zu sein und ein modernes Vaterbild vorzuleben?

Melcher: Sie sollen nicht lernen, bessere Väter zu werden. Sie sollen sich mit dem Vaterbild auseinandersetzen, sich Gedanken darüber machen, wie sie später ihre Kinder erziehen wollen. Ich will ihnen Räume für neue Erfahrungen bieten. Ich habe in den 90er-Jahren als junger Mann in einer Kita gearbeitet. Ich habe erlebt, dass Männer fähig sind, in diesem Job glücklich zu werden.

Hagmann-Bula: Es braucht folglich mehr Männer in Kindertagesstätten. In welchen anderen sozialen Berufen noch?

Melcher: Vor allem in der Seniorenarbeit. Für Männer in allen sozialen Berufen ist es aber wichtig, dass sie sich bei der Arbeit mit Kollegen und nicht nur mit Kolleginnen austauschen können. Sobald mehrere Männer in einer Institution arbeiten, wird das zum Normalfall. Das wirkt ermunternd für weitere Geschlechtsgenossen. Etwa für solche, die einen anderen Beruf erlernt haben, in der Mitte des Lebens aber nach mehr Sinn suchen.

 

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Quelle: http://www.tagblatt.ch/nachrichten/panorama/panorama/Maennerquote-ergibt-keinen-Sinn